Reiche Eltern für alle!

philipp meier
3 min readDec 3, 2020

Im Prinzip bräuchten wir ein Grundeinkommen. Das haben wir leider noch nicht. Und weil sich die Stadt nicht um die Clubkultur schert, müssen wir uns selber helfen.

«Affenhitze und Wespenplage» — so wurde der Sommer 2017 von einer Schweizer Boulevard-Newsseite zusammengefasst. Im besagten Sommer geschah jedoch auch noch etwas, das International mehr Wellen schlug als hierzulande: Der Zürcher Techno wurde in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Schweiz aufgenommen. Damit zählt er gemäss der UNESCO zu den 199 bedeutenden Formen des Schweizer Kulturerbes.

Dieser Beitrag ist zuerst auf www.ausgebenstattausgehen.ch erschienen

Andere Tourismusregionen würden sich um solche Auszeichnungen reissen und sie maximal Ausschlachten. Nicht so in Zürich.

Das Desinteresse von Politik und Verwaltung an der Clubkultur ist eng damit verknüpft, dass sie hauptsächlich dem Techno entspringt. Wie jede ältere Generation, die was erkämpft und erreicht hat, rümpften auch die 68er und 80er über neue Jugendkultur die Nase. Bei Techno wurde unter anderem die ‘kalte Maschinenmusik ab Konserve’ beklagt.

Im Gegensatz zu den Exponent’innen der Techno-Bewegung haben die Bewegten von 68 und 80 den Marsch durch die Institutionen angetreten. Dort pflegen sie bis heute ein Verständnis von ‘Alternativ-Kultur’, das längst im Mainstream angekommen ist — und erkennen oder dulden daneben keine ‘Alternativen’ mehr, auch wenn sie Zürich inzwischen gefühlt seit Ewigkeiten mitprägen.

Die Vorurteile gegenüber der Clubkultur ähneln denjenigen, die dieselben Generationen gegenüber dem Digitalen, respektive gegenüber dem Web haben. Egal, ob sich jemand auf dem Dancefloor bewegt oder ein Selfie macht, er oder sie stellt sich ins Zentrum und macht sich dadurch verdächtig.

Der Vergleich zwischen Club und Internet liegt insofern auf der Hand, weil es bei der Selbstinszenierung auf dem Dancefloor wie im Web um Selbstermächtigung über den eigenen Körper, respektive über die Darstellung desselben geht. Und in dieser Selbstermächtigung unterscheiden sich die Clubkultur und das Web ganz klar von allen anderen Kulturvermittlungsformaten — Theater, Oper, Kino, Konzert, Museum — die in erster Linie auf den passiven Konsum von ‘Exzellenz’ ausgerichtet sind, ohne jegliche oder nur mit bescheidenen Interaktionsmöglichkeiten.

Neben den paar Brosamen, die der Zürcher Popkredit da und dort für die Clubkultur abwirft, gab es in den letzten Jahrzehnten nur einmal einen Moment, in dem die Stadt das Nachtleben effektiv strukturell und nachhaltig unterstützte. Das Konzept hiess ‘Langstrasse plus’ und sein strategisches Ziel war, das Rotlicht-Milieu aus dem Quartier zu verdrängen, um den Chreis Cheib ‘lebenswerter’ zu machen.

Dabei half die Stadt nicht nur bei der Vermittlung von Räumlichkeiten, sondern unterstützte die angesiedelten Betriebe teilweise auch mit einer Anschubfinanzierung. Neben anderen Lokalen wechselte deswegen das Longstreet die Hände und hielt die Zukunft im Quartier Einzug.

Wie nachhaltig dieses Engagement ist, wird sich nicht nur dadurch zeigen, wie viele Lokale den Corona-Shutdown überleben, sondern auch, wie lange sie von den neuen Anwohner’innen toleriert werden. Es ist nämlich quasi der ‘Gentrifizierungsklassiker’ schlechthin, dass die Betriebe, die ein Quartier aufwerten, oft von denjenigen vertrieben werden, die wegen dieser Aufwertung in die attraktive Umgebung gezogen sind.

Im Gegensatz zu den Lärmklagen, welche oft einzig die beiden Konflikt-Parteien betreffen, können wir jedoch beim Corona-Shutdown alle selber aktiv werden. Und bis irgendwann ein Grundeinkommen eingeführt wird, müssen wir — mal da und mal dort — füreinander ‘reiche Eltern’ spielen. Das bunte Nachtleben wird es uns in seiner buntesten Buntheit danken!

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philipp meier

teilzeit community developer @swissinfo.ch, teilzeit beratung, ehem. SM editor/curator @watson.ch, NachtStadtrat Zürich, ex-direktor cabaret voltaire