Lasst die Kinder in Ruhe — Gamen, Chatten, Selfies machen!
Es gibt wenig gesellschaftliche Debatten, die derart verklemmt, realitätsfern und angstgetrieben geführt werden, wie diejenige, ob und wie Kinder elektronische Geräte nutzen dürfen.
Eine Replik in 5 Akten:
1. Die düstere Vergangenheit
Unsere Kinder (10/13) waren in ihren Schulklassen nicht die ersten, die ein Smartphone hatten. Und der Ältere musste da durch, wo die ältesten Geschwister häufig durch müssen: Wir waren bei ihm bezüglich Smartphone-Nutzung strenger als beim jüngeren Geschwister. Er kriegte ein günstiges Prepaid-Abo. Sprich: Er konnte es fast nur Nutzen, wenn er Wlan hatte.
Auch führten wir bezüglich TV-/Youtube-Konsum und Gamen ein relativ hartes Regime. Sie kriegten pro Woche rund 200 Minuten, die sie in 10-Minuten-Tranchen selber einteilen konnten. Dazu führten wir Buch.
Irgendwann wurde uns das alles viel zu doof. Auf den 10. Geburtstag der Tochter kriegte auch sie ein Smartphone, beide ein Flat-Abo und es gibt seither keine Regeln mehr.
2. Das richtige Momentum
Es braucht viel, bis ich neben Familie, meinem Job und einigen unbezahlten Mandaten (u.a. NachtStadtrat und Motherland) einen Sonntag für einen Workshop opfere. Die Ausschreibung erreichte mich jedoch genau zur richtigen Zeit und klang vielversprechend:
Es ärgert mich schon länger, dass an der Schule der Kinder ein absolutes Smartphone-Verbot gilt — sogar im Hort, der eigentlich zur (betreuten) Freizeit zählt.
Die Ursachen für ein solches striktes Verbot fusst wohl darin, dass der öffentliche Diskurs von Angst und Unwissenheit geprägt ist:
- Die Massenmedien müssen «das Web» ständig als Bedrohung darstellen, weil es nicht nur ihre Deutungshoheit streitig macht, sondern auch ihr Wirtschaftsmodell massiv bedroht.
- Die NGOs — wie zum Beispiel die Pro Juventute — müssen Ängste schüren, um ihre Daseinsberechtigung zu begründen und um Spenden und Mandate zu kriegen — denn Problemlösungen können nur dann angeboten werden, wenn es Probleme gibt.
- Die Erwachsenen haben Angst, weil sie grösstenteils keinen blassen Schimmer haben, was ihre Kinder mit ihren Gerätchen anstellen — und wir wissen nicht erst seit der Debatte über Ausländer, dass das Angst macht, was man nicht kennt.
Die Ausschreibung zum oben erwähnten Workshop lautete denn auch treffend:
Bei all diesen Ängsten geht vergessen, dass das World-Wide-Web grösstenteils total harmlos ist. Im Gegenteil: Es findet sich da viel wissenswertes und unterhaltsames.
3. Der normale Alltag
Ich bin definitiv kein «Helikopter-Vater». Wenn ich ehrlich bin, dann kommt das vor allem davon, dass ich schlicht zu bequem bin, um meine Kinder auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Der tolle Nebeneffekt: Ich schenke ihnen viel Vertrauen. Und genau das ist für mich der Schlüssel in der Beziehung zwischen den Kindern und mir:
Wenn sie losziehen, dann sollten sie wissen, wo sie «Zuhause» sind — im konkreten, wie auch im übertragenen Sinn.
Dabei unterscheide ich nicht (mehr), ob sie nun on- oder offline losziehen. Hier wie dort braucht es — neben dem Vertrauen — minimale Regeln, an die sie sich idealerweise und dem Alter entsprechend halten sollten.
Was ich jedoch beobachte, ist, dass die Gesellschaft oft grosse Unterschiede macht, ob Kinder Off- oder Online unterwegs sind. So wird zum Beispiel das Spielen draussen auf einem — übrigens meistens strikt normiert durchdesignten — Spielplatz als sinnvoll erachtet, das Gamen jedoch meistens sehr negativ bewertet. Wir sind noch nicht mal so weit, dass wir einfach von zwei verschiedenen Arten des Spielens ausgehen können.
Aus Erfahrung mit den eigenen Kindern weiss ich inzwischen, …
- … dass jedes Kind anders ist.
- … dass ein Kind oft die unterschiedlichsten Phasen durchlebt. Nicht nur das Interesse an spezifischen Games, Clips und Chats verändert sich über die Jahre, sondern auch ganz allgemein das Interesse an Freundschaften, am Rausgehen oder anderen Freizeitbeschäftigungen.
Umso absurder ist es, allgemein gültige Regeln festzulegen.
4. Die fehlende Medienkompetenz
Und nun wird allen Ernstes diskutiert, ob an den Schulen das Fach Medienkompetenz eingeführt oder in einer Unterrichtseinheit digitale Kompetenzen vermittelt werden soll 🙄
Es leuchtet mir überhaupt nicht ein, weshalb die Smartphones und Computer nicht längst selbstverständlicher Bestandteil jedes einzelnen Fachs sind. Wenn nämlich in allen möglichen Fächern googeln und das Benutzen von Apps und anderen digitalen Instrumenten und Hilfsmittel selbstverständlicher Bestandteil wäre, dann wäre es ein Leichtes, neben all dem Lehrreichen und Wissenswerten auf die manipulative Wirkung von Algorithmen, auf potentielle Gefahren oder auf simple Hacks hinzuweisen.
Wenn die Schulen den Unterricht endlich für die kleinen Helferlein namens Smartphones öffnen würden, würden sie nämlich staunen, welche Kompetenzen die Kinder bereits haben (von Bildmanipulation über Selbstdarstellung bis hin zu Kommunikation)
5. Die vielversprechende Zukunft
Egal, ob wirs nun Disruption oder Digitalisierung nennen, der aktuelle Wandel wird alles verändern. Deshalb bin ich überzeugt, dass sich diese Debatte bald entspannen wird.
Und dann sehe vor meinem inneren Auge bereits die Debatte und Konflikte der kommenden Generationen: Die Eltern und Lehrerschaft, deren Kinder nur noch AR- und VR-Brillen tragen, werden diese dazu drängen, gescheiter auf dem Smartphone zu chatten oder wenigstens ein paar lehrreiche Apps zu benutzen ✌😎
Ich beginne hier gleich eine Sammlung aus den Diskussionen:
- «Projektschule Goldau» zum Einsatz von elektr. Devices im Unterricht
- «Fünf Fragen zur angemessenen Smartphone-Nutzung»
- «Lasst die Kinder in Ruhe!» (erst nach meiner Publikation entdeckt)
- «Wieviel Medienzeit gibt es bei Euch?»
- «Was mich im Alltag zunehmend mehr nervt ist die Sache mit Kindern und „Medien“»
- «Die digitale Schule» (aktuellen Stand in der Schweiz)
- Dirk von Gehlen: Lob des Smartphones! | Zündfunk Netzkongress 2017
- Panicked about Kids’ Addiction to Tech?
Und unter den folgenden Posts hat es interessante Diskussionen:
Interessiert an wirren News zum Thema Journalismus?