Anna Laura, wie ist es, als Lernende bei der SBB von Kunden regelmässig beschimpft zu werden?
Als Kind freute ich mich immer auf die Familien-Treffen. Da sah ich jeweils meine geliebten Cousins und Cousinen wieder. Irgendwann wurden sie jedoch zu dem, was wir in der Schweiz «Familien-Schlauch» nennen: Ein Pflicht-Anlass, an dem ich oft verkatert oder sonst wie übermüdet auftauchte und der deshalb zur Qual wurde.
Mit der Zeit entspannte sich jedoch mein Verhältnis zu diesen alljährlichen Zusammenkünften der Familie wieder, die mit den Angetrauten und dem Nachwuchs immer grösser wurde. Inzwischen sind teils sogar die Kinder der Cousinen und Cousins erwachsen.
Eine davon ist Anna Laura, die vor kurzem sechzehn Jahre alt wurde (auf diesem Weg nur das Beste für dein neues Lebensjahr, liebe Anna Laura:). Der Zufall wollte es, dass ich beim letzten Familientreffen neben ihr sass.
Als sie mir von ihrer neuen Lehrstelle vorschwärmte, horchte der SBB-Servicescout in mir auf. Sie macht nämlich eine Ausbildung zur «Fachfrau öffentlicher Verkehr» — bei der SBB. Als solche übernimmt sie die unterschiedlichsten Aufgaben in diesem grossen Unternehmen. Anna Laura hat die Lehrstelle letzten Sommer angetreten und wurde umgehend als Zugbegleiterin eingesetzt.
Es überrascht und beeindruckt mich jedes mal, wenn beim Pendeln junge Lernende sehr selbstbewusst mein GA kontrollieren
Sie sprüht vor Enthusiasmus für ihre neue Aufgabe und freut sich sehr, dass sie beim Lernen ihres Berufes in der Schweiz rum kommt und vielen verschiedenen Menschen begegnet. Nur eines verwirrt sie sichtlich: Sie wird regelmässig beschimpft. Das entsetzt mich sehr.
Ich weiss zwar aus unzähligen Diskussionen, dass der Umgangston sehr rau werden kann, wenn es um die SBB geht. Aber es wollte mir nicht in den Kopf, dass Leute deswegen junge Lernende beschimpfen.
Diese Irritation wollte ich zum Anlasse nehmen und Anna Laura im Nachgang zum Familien-Treffen ein paar Fragen stellen.
Wie lange arbeitest du inzwischen als Zugbegleiterin?
Ende Januar sinds sechs Monate.
Wie oft werden die Kunden ausfällig?
Das ist sehr unterschiedlich. Manchmal drei mal pro Tag und dann ein paar Wochen nicht. Rund um Weihnachten kams häufiger vor. Da sind die Leute gestresster und schneller «aggressiv».
Was sind die «freundlichsten» Beleidigungen, die du dir schon anhören musstest?
Dass ich eine kleine Hexe sei.
Was sind die übelsten Beleidigungen, die du dir schon anhören musstest?
Dass ich eine Schl*mpe vom Strich sei.
Was sind das für Leute, die dich beschimpfen?
Es sind meistens Männer.
Wie alt sind die Leute, die dich beleidigen?
Jeden Alters — ab zehn bis ca. siebzig jährig.
Wehren sich andere Fahrgäste für dich?
Einmal. Da habe ich jedoch im Nachhinein erfahren, dass die Person bei der SBB als Zugbegleiter arbeitet.
Wie reagierst du jeweils auf die Beschimpfungen?
Es trifft mich jedes mal wie aus heiterem Himmel. Deshalb bin ich jeweils total baff und sprachlos. Ich gehe einfach weiter meiner Tätigkeit nach.
Gibt es von der SBB Tipps, wie du mit solchen Beleidigungen besser umgehen kannst?
Richtige Tipps gabs bis jetzt nicht. Praxisausbildner, die mich jeweils begleiten aber manchmal bereits im nächsten Wagen sind, sagten mir, dass die Beleidigungen nicht mir sondern der Uniform gelte.
Wie ich oben bereits erwähnte, finde ich es sehr begrüssenswert, dass die SBB derart junge Menschen schon früh sehr vertrauenswürdige Aufgaben übertragen. Umgekehrt sollten die SBB sie jedoch auch lehren, wie sie mit solchen Beleidigungen umgehen könnten. Junge Menschen habe oft noch keine dicke Haut.
Und an alle, die Zugbegleiterinnen und Zugbegleiter beschimpfen: Reisst euch zusammen! Oder schreibt — wenn es denn sein muss und ihr reklamieren wollt oder vielleicht sogar einen konstruktiven Vorschlag habt — der SBB eine Mail oder kontaktiert sie auf Social Media.
Und an alle anderen Fahrgäste: Steht jungen Zugbegleiterinnen und Zugbegleitern zur Seite, wenn sie beschimpft werden (aber bitte nicht so, dass es zu einem handfesten Streit ausartet;)