Alle Menschen sind Kurator*innen

philipp meier
2 min readMay 21, 2017

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Mit dem Ready made, der Art Brut und dem Lebenskunstwerk, mit dem Happening, der Popart und dem Punk, war die Kunstgeschichte des vergangenen Jahrhunderts ein einziger grosser Verweis darauf, dass alles Kunst sein kann und alle Künstler*innen.

Das World Wide Web machte wahr, was Beuys, Warhol und Freytag-Loringhoven ankündigten. Hier können alle unhinterfragt Künstler*innen sein. Ob nackt oder anonym, alle können sich selber inszenieren und niemand fragt danach, ob der hochgeladene Clip oder das geteilte Bild Kunst ist oder nicht.

Ohne es zu realisieren, wurden in Web 2.0 mehrere hundert Millionen Menschen zu Kurator*innen. Sie kuratieren auf Facebook und Instagram ihre Chronik. Sie sammeln akribisch oder intuitiv längere und kürzere Videoclips und präsentieren sie auf Videoplattformen. Sie sammeln zu gewissen Themen oder nach subjektivem Gutdünken Bilder und teilen sie in Blogs — nicht selten mit wildfremden Menschen. Das ist der grosse Unterschied zum «Zuhause Bilder an die Wand hängen»: Die Plattformen im Web 2.0 sind (teil)öffentlich.

Im Web gibt es zum Beispiel abertausende Blogs und Instagram-Accounts im grossen Feld zwischen Fashion und Konzeptkunst. Das ist möglich, weil das Web kein klar positioniertes Haus ist und keine Einlasskontrollen kennt. Hier sind alle nicht nur Produzent*innen und Rezipient*innen, sie sind alle auch ihre eigenen Gatekeeper, die unabhängig und eigenständig entscheiden, was auf ihren Plattformen gezeigt wird.

Keine Frage, auch im Web 2.0 gibt es Rahmenbedingungen. Aber diese sind mit denjenigen in den Museen vergleichbar. Das grafische Setting von Social Media Plattformen ist mit den architektonischen Settings in Museen vergleichbar. Und so wie in Museen gewisse «ethische» Standards gelten, so darf auch auf Online-Plattformen nicht alles gezeigt werden. Und ebenso wie viele Nutzer*innen im Netz, so wollen auch die Museumskurator*innen in ihrem Milieu König*in sein.

Dieser Text wurde 2013 im Heft «Schweizer Kunst» mit dem Titel «Curators» publiziert, das von visarte herausgegeben wurde

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philipp meier
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Written by philipp meier

teilzeit community developer @swissinfo.ch, teilzeit beratung, ehem. SM editor/curator @watson.ch, NachtStadtrat Zürich, ex-direktor cabaret voltaire

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