18 ½ Experimente in Clubhouse

philipp meier
10 min readJan 26, 2021

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Meine Bubble ist kaputt. Deshalb versuchte ich in Clubhouse mit fremden Menschen eine Regenbogen zu bilden — und noch einiges mehr.

Zuerst folgt ne kurze Herleitung. Wer direkt zur Liste mit den Experimenten durchscrollen möchte, startet beim 🌈

Es ist immer noch schwierig zu erklären, was den Reiz von Clubhouse ausmacht — abgesehen von der Verknappung des Angebotes. Die ersten Beschreibungen, die die Runde machten, schreckten mich ab. Es soll vor allem eine App für die Podcast-Bubble sein, hiess es da und dort.

Weil ich überhaupt kein Podcast-Hörer bin, liess ich deshalb die App erst mal links liegen. Dann erlag ich dem Sog des Verknappungsmarketings.

Wenig überraschend begegnete mir in der App als erstes die Schweizer Version dessen, was der social media watchblog als ‘Berlin Mitte Elite’ beschrieb.

Wer übrigens nicht in Räumen mit vielen privilegierten weissen Männern landen möchte, folgt am besten Frauen, Menschen aus der LGBT+-Community und BIPoC

Die Reaktionen in meiner Bubble zu dieser neuen Social App — ob inner- oder ausserhalb von Clubhouse — können grob geschrieben in drei Haltungen eingeteilt werden:

  1. Bewusstes oder unbewusstes Desinteresse
    Voll oke 👍 (Android-Nutzer’innen sind ja quasi dazu verdammt, desinteressiert zu sein)
  2. Oberflächliche Euphorie
    Stürzen sich rein, kopieren jedoch die aus dem RL bekannten Formate (Mitmach-Podiumsdiskussion und Stammtisch) und bedienen die klassischen Aufmerksamkeitsmechanismen (Polarisierung, Marketing-Hype-Slang und/oder spannen teils altbekannte Promis vor den Karren)
  3. Zelebrierte Ablehnung
    Kommt von Leuten, die quasi als ‘early rejecter’ —Begriff von ‘matschbild’ aufgegriffen — oft sehr hochnäsig neue Social Apps ablehnen (ohne sich schlau gemacht zu haben; oder sich nur oberflächlich damit befasst zu haben). Sie stürzen sich mit Vorliebe auf jegliche Kritik und blasen sie dann ganz gross auf.

Was nicht heisst, dass ich fundierte Kritik ablehne. Ganz im Gegenteil: Sie ist für eine ‘faire’ Weiterentwicklung der App zentral. Im Gegensatz zu den ‘alten’ Social Apps wie Facebook oder Twitter reagieren neue App-Anbieter gefühlt jedoch viel zeitnaher auf Kritik — zumindest nehme ich das z.B. bei TikTok so wahr

Aber keine Frage: Es gab auch ein paar — eher wenige — Menschen aus meiner Bubble, die sich mit einer ziemlich vorbehaltlosen Neugierde in Clubhouse ‘auf die Suche nach dem Sinn dieses Angebotes’ machten.

Umso spannender war es aber auch, dort auf ‘neue’ Menschen und deren Themen zu treffen [Thread].

Was ist nun eigentlich dieses Clubhouse?

Dieser ganz kurze Twitter-Thread erklärt es (natürlich auch noch nicht abschliessend):

Das zentrale in Clubhouse sind die Räume, wo die Gespräche stattfinden. Sie sind sehr hierarchisch aufgebaut. Oben ist die Bühne, wo sich alle aufhalten, die sprechen dürfen/können und unten ist das Publikum, das bis jetzt keine Interaktionsmöglichkeiten hat.

Es versteht sich von selbst, dass in diesem Setting vor allem Plauderrunden oder jedwelche Diskussionen stattfinden.

Tauchen neue Social-Apps auf, interessiert mich jedoch zuerst vor allem, was in diesen Settings überhaupt möglich ist. Hier deshalb (endlich;) eine erste Liste meiner Experimente, respektive, was mir dazu zu Ohren kam (werde die Liste laufend ergänzen, weshalb Inputs sehr willkommen sind):

1. Lass uns einen 🌈 bilden

Als Ausgangslage der Interaktion dient in diesem Konzept, die Farbe der Profilbilder an ein vorgegebenes Thema anzupassen — in diesem Fall ein 🌈. Bei meinem Experiment sah es letztendlich in etwa so aus:

Das Gespräch darum herum orientierte sich in erster Linie an den ausgewählten Farben, resp. an den ausgewählten Sujets.
Der Regenbogen ist natürlich nur eine Version von vielen möglichen Farb-Varianten.

2. Ruheraum

Wie der Namen sagt, herrscht hier Stille. Dieser Raum ist längst ein klassiker und läuft inzwischen durchgehend 24/7 mit mehreren hunderten ‘Schweigenden’. Ich schätze ihn sehr, denn Clubhouse kann süchtig machen (was wohl in erster Linie am Live-Charakter liegt, der dafür sorgt, dass ständig was verpasst werden könnte). In solchen FOMO-Momenten ist es enorm befreiend, Ruhe einkehren zu lassen, ohne die App verlassen zu müssen.
Der Raum ist am ehesten via Leander Wattig zu finden.

3. Harry Potter Leserekord

Auch dieser Raum läuft aktuell rund um die Uhr. Das Konzept: Jemand liest laut aus Harry Potter vor und lässt sich nach einer gewissen Zeit dabei ablösen. Alle anderen hören zu. So sollen in diesem Raum irgendwann alle Bände vorgelesen worden sein.
Leider weiss ich nicht mehr, durch wen ich auf diesen Raum gestossen bin und fand ihn auf die Schnelle nicht über die Suche und Menschen, die diesem Thema folgen.

4. Dating Show

Dieses Beispiel soll aufzeigen, dass ausserhalb der klassischen Gespräche und Diskussionen viele Formen möglich sind, die auf Interaktion aufbauen und womöglich bereits in anderen Medien bestehen. Ich liess mir das Setting so erklären, dass sich Männer auf die Bühne begeben konnten, um um die Gunst einer Frau zu buhlen. Zum Einen ist zwar die Reduktion auf Profilbild und vor allem auf die Stimme einzigartig, zum Anderen haben die meisten jedoch auch ihre Twitter- und/oder Insta-Accounts verlinkt, die in solchen Fällen (und natürlich auch sonst;) abgecheckt werden können.

[Btw: Meine Aktivität auf Clubhouse brachte mir auf Twitter und vor allem Insta einige neue Follower’innen. Weil die App noch keine Chat-Funktion hat, wird parallel oder im Nachgang zu Geprächen oft via Insta gechattet]

5. Geräuschkulisse

Der Titel dieses Raumes war ‘Wer was sagt, fliegt raus’. Alle die reinkamen wurden umgehend auf die Bühne eingeladen. Dieses Setting führte dazu, dass viele irgendwelche Geräusche einspielten. Erstaunlicherweise entstand dadurch nicht eine laute Lärm-Kakophonie, sondern ein filigraner Geräuschteppich, wo z.B. gelegentlich ne Katze rein-miaute, was wiederum kicherndes Lachen auslöste, und u.a. jemand vom Computer vorlesen liess, wie toll das ganze ‘Geräuschkonzert’ sei. Irgendwann sah ich mich durch die Wohnung gehen und alles mögliche auf dessen Klangpotential abzuchecken.
Das Ganze erinnerte mich an 4'33'’ von John Cage, wo das Räuspern im Publikum zu Musik erklärt wurde.
Geräusche haben mit Sicherheit ein grosses Potential. Dazu ein weiteres Beispiel aus der Kunstgeschichte: Sieben Jahre nach der Ur-Aufführung von 4'33'’ komponierte die Fluxus-Künstlerin Alison KnowlesMake a Salad’, bei dem die (gemeinsame) Zubereitung von Salat Teil eines Musikstückes ist.

6. Rap-Battle

Eigentlich hätte ich das auch unter der ‘Dating Show’ erwähnen können. Das Prinzip ist schnell erklärt: Jemand spielt einen Beat ein und Rapper’innen treten mit Sprechgesang gegeneinander an.
Von diesem Format erzählte mir Ugur Gültekin, der es meines Wissens in der US-Bubble verortete.

7. Chor-Probe

Diese grossartige Idee hatte Stefan in einem Raum, in dem wir das Potential von Clubhouse-Räumen diskutierten. Gerade jetzt könnten sich Chöre hier online treffen und zusammen Singen und Proben.
Natürlich wäre es auch möglich, hier mit Menschen aus unterschiedlichen Weltregionen zusammen zu singen.

8. Kommentiertes DJ-Set

Es freut mich ausserordentlich, ein solches Setting miterlebt zu haben. So weit ich mitbekommen habe, hat jemand in den USA ein R’n’B-DJ-Set in den Raum eingespielt und darin war eine sehr entspannte Stimmung. Viele hatten die Mikrofone offen und feierten die Hits, machten sich über kitschige Sequenzen lustig, singten mit, sagten ‘guten Morgen’, worauf andere entgegneten, dass bei ihnen Nachmittag sei und so weiter und so fort. Auch wenn der effektive Club-Raum fehlte, fühlte ich mich wenigstens im Kopf für diesen Moment, als ob ich mich in einem kosmopolitischen Party-Raum befinden würde.

9. Improvisation

Auch diese Idee wurde in unserem Raum über die kreative Nutzung von Clubhouse ausformuliert. Es war vor allem Nico, der einbrachte, sich hier bei Formaten aus den darstellenden Künste inspirieren zu lassen. Weiter gedacht sind dabei die unterschiedlichsten ‘Storytelling-Formate’ möglich — von zusammen spontan ein Hörspiel inszenieren bis ‘ad hoc Poesie’.

Helfe mir bitte, noch mehr Ideen zusammenzutragen. Ich werde sie hier ergänzen und dich gerne als Inputer’in featern. Vielen dank!
Ab hier folgen neue Inputs:

10. Schweigen für …

Im Prinzip hätte ich diesen Punkt auch unter ‘Ruheraum’ erwähnen können — denn die Stille ist hier dieselbe — jedoch letztendlich dann doch viel ‘zweckgebundener’. Deshalb führe ich es unter einem separaten Punkt auf.
Diesen Raum habe ich dank Mone entdeckt. Der Titel ‘ihres’ Raumes war am Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts “Schweigen für die Opfer des Holocausts am Tag der Befreiung⚫”.
Bei diesem Raum realisierte ich, dass es bei Clubhouse quasi ein aktives und ein passives Schweigen gibt. Wer im Publikum sitzt muss eh schweigen, respektive kann effektiv nur den Schweigenden auf der Bühne zuhören. So gesehen ist die aktive Teilnahme an einem “Schweigen für …” nur auf der Bühne möglich (natürlich mit ausgeschalteten Mikrofon).

11. Helden der Nacht

Obwohl diese ‘Clubhouse Bar’ mit Nina eine Wirtin hat, wird im Titel nur das generische Maskulinum verwendet. Nina ist jedoch eine sehr charmante Gastgeberin und begrüsst allspätabendlich jeden neuen Gast auf der Bühne mit der Frage, was er*sie trinken möchte. Die Stimmung lässt daraus schliessen, dass viele Besucher’innen Zuhause effektiv alkoholische Getränke konsumieren. Das kann dazu führen, dass, wie in einer richtigen ‘Boomer-Kneipe’, zum Beispiel Schwerenöter auftauchen oder über die politische Unkorrektheit gewisser Sprüche grosszügig hinweggelacht wird. Als mal jemand fragte, ob die Bar auch ein Klo habe, wurde spontan ein neuer Raum eröffnet und zur Toilette der ‘Helden der Nacht Bar’ erklärt. Da tauchten dann auf den Profilbildern Bilder von WCs und Pissoirs auf.
Danke Kat für den Hinweis.
Ausgehend von der Idee, die Profilbilder anzupassen, habe ich eine kleine Gesprächsrunde unter dem Titel ‘Küchentalk’ animiert, über die Profilbilder Einblicke in die jeweiligen Küchen zu gewähren. Gelandet sind wir dann bei den schrägsten, respektive absurdesten Objekte in der Küche.

12. Vorraum

Diese Idee von Flo hätte ich fast vergessen. Er brachte sie auch im Raum ein, wo wir über experimentelle Formate diskutierten. Sein Ansatz ist, einen Clubhouse-Raum als Vorraum/Entrée zu einem realen Raum zu verstehen. Das kann effektiv als digitaler Empfangsraum verstanden werden — jedoch zum Beispiel auch metaphorisch, um sich hier ‘digital’ kennenzulernen, bevor mensch sich ‘real’ trifft.

13. Dorf

Mit der Metapher ‘Dorf’ greife ich hier 1bisschen nach den Sternen ;)
Der Ansatz wäre dieser, dass verschiedene Räume eine Einheit bilden könnten — in welchem Sinne auch immer. Meines wissens ist das Zusammenfassen von Räumen in den grossen unique gebrandeten Clubs möglich. Aber das Beispiel mit dem Klo zur Helden-Kneipe weist auf das Potential hin, auch unabhängig davon Räume nebeneinander zu bespielen.

14. Gemeinsame Aktivitäten

Beim weiter oben geäusserten ‘Küchentalk’ machte die Idee die Runde, mal gemeinsam dasselbe Gericht zu kochen. Was ich effektiv schon miterlebt habe, ist, dass Menschen gemeinsam spazieren oder rennen gehen. Bei ersterem wurde gerne das Wetter und die Umgebung als Herleitung für das Gespräch genutzt. Bei zweiterem bestimmten vor allem das Keuchen und die Windgeräusche im Mik die Gesprächsatmosphäre.

15. Social Media Accounts pitchen

Mit Ausnahme der Profilbilder können auf Clubhouse keine Bilder geteilt werden. Geht es um visuelles, wird oft über die in der Bio verlinkten Social Media Accounts geredet. Dies hat zum Format geführt, dass Influencer’innen oder andere Social Media Fachleute live die Insta-Accounts von Menschen beurteilen, die deswegen bei ihnen Rat suchen. Das ist natürlich auch für alle anderen Zuhörer’innen sehr interessant.
Danke Michelle für den Hinweis.

16. Open Mic

Das erwähne ich, obwohl es kein Clubhous-spezifisches Format ist. Erlebt habe ich es, dass (mehr oder weniger) bekannte Vertreter’innen aus der Musik-Szene Newcomer’innen die Möglichkeit gaben, ihre Rap- oder Gesangskünste zu präsentieren.

17. Hosentasche

‘In der Hosentasche 👖’ war ein sehr witziger kleiner ‘Clubhouse-Hack’. Der Nutzer Be Lal S., der im Profil leider keine Social Media Accounts verlinkt hat, eröffnete unter diesem Titel einen Raum, entsperrte sein Mikro, steckte das Smartphone ist seine Hosentasche und ging seinen alltäglichen Tätigkeiten nach 😂

18. Stilles Vernetzen

Das ist eine weitere Version eines Raumes ohne Audio. Die Idee dahinter ist die, dass ein bestimmtes Thema definiert wird und sich hier alle einfinden, die dazu passende Kompetenzen oder Interessen mitbringen. Der Titel des Raumes kann beispielsweise “Stilles Vernetzen 🤫 Fitness & Ernährung” lauten.
In diesem Setting, in dem nichts geredet wird, können alle in aller Ruhe die Bios und Social Media Accounts der Anwesenden abchecken und ihnen bei Interesse folgen oder sie zum Beispiel direkt in den Chats der verlinkten Social Media Accounts kontaktieren.
Ich persönlich folge jedoch lieber Menschen anhand ihrer Wortbeiträge.

18 ½ Diverses

Hier führe ich Kleinigkeiten auf, wie das Setting etwas kreativer gestaltet — respektiv ‘gehackt’ — wird, resp. werden könnte:

Mikrofon
Schnell blinken: Applaus
Langsam blinken: Möchte mich melden

Quote
Emily hat beobachtet, dass Tilo in einem Raum konsequent abwechslungsweise ‘Männer’ und ‘Frauen’ aufs Podium hole. Melde sich keine Frau, gehe es einfach nicht weiter (das finde ich viel ‘entspannter’, als ständig an die Frauen zu appellieren, sich bitte auch zu melden).

Abstimmen
Noch etwas umständlich — insbesondere dann, wenn viele Menschen im Raum sind — aber Andreas hat darauf hingewiesen, dass die Funktion des Hand hebens (melden zum Mitreden auf der Stage) eigentlich auch für Abstimmungen genutzt werden könnte.

Endlos
Wie weiter oben bereits beschrieben, werden die Räume nicht an denjenigen festgezurrt, die sie eröffnen, sondern können endlos bestehen bleiben. Das heisst, dass die Moderationsrechte wie in einer Stafette (noch?) an irgendwelche User’innen weitergereicht werden können.

Fortsetzung
Ich beobachtete bereits einmal, dass Menschen, die mit dem Diskussionsverlauf eines Raumes unzufrieden waren, umgehend einen neuen Raum eröffneten, um unter ihresgleichen weiterzudiskutieren. In meinem Beispiel waren es Lehrer’innen, die gleichzeitig auch erfolgreiche Influencer’innen sind und von zwei Männern aus der Bildungsforschung etwas kritischer unter die Lupe genommen wurden. Weil diese Lehrkräfte oft bereits vom Kollegium und den Schulleitungen kritisch beäugt werden, empfand ich es als eine art Selbstermächtigung, dass sie durch die Initiative von Hilal einen eigenen Raum öffneten. Wer ihnen dort folgte bemerkte rasch, dass sie auch selbstkritisch reflektieren konnten und wollten, im anderen Raum zuvor jedoch ständig in einer Abwehrhaltung verharren mussten.

Links & Kniffs

Weil ich (glücklicherweise) den (naiven) Glauben an das menschenverbindende globale Web nie ablegte, kann ich mich nach wie vor für solch kreative Begegnungsorte und empowernden Formate begeistern ❤️

Disclaimer: Ich liess die Hürden aussen vor, die diese App (aktuell noch) hat. Das wären zum Einen, dass im Moment nur reinkommt, wer eine Einladung von jemandem hat, der*die bereits drin ist, und zum Anderen, dass es die App im Moment nur für Nutzer’innen der (teuren) Apple-Geräte gibt.

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philipp meier
philipp meier

Written by philipp meier

teilzeit community developer @swissinfo.ch, teilzeit beratung, ehem. SM editor/curator @watson.ch, NachtStadtrat Zürich, ex-direktor cabaret voltaire